„Mach du das doch, du kannst das so gut.“
„Du kannst so gut organisieren.“
„Mir fällt das schwer, dir fällt das viel leichter.“
Wie oft habe ich es gehört.
Ja, ich kann besser organisieren und den Überblick behalten, ich merke mir Dinge besser als Mann und Kind. Aber fällt es mir leichter? Ist es leichter?
Ich habe gelernt, mich besser zu organisieren, weil ich es musste. Als ich mit 17 auszog, gab es niemanden, der mich an Rechnungen erinnerte oder daran, dass das Klopapier leer ist, ich hatte wenig Geld und keinerlei Spielraum, ich musste hungern, wenn ich pleite war, also fand ich Methoden zur Organisation, früher Zettel, heute sind es Apps. Vielleicht wirkt es oft nach außen, als hätte ich alles im Griff, aber was ich mir nicht aufschreibe ist weg, und weil ich das weiß, schreibe ich alles auf. Ich erstelle Listen für ungefähr alles, es gibt keinen Ausflug ohne Packliste, und vor Reisen fange ich bereits Wochen vorher an.
Fällt mir das leicht? Nein, es kostet mich unglaublich viel Kraft, es frisst Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen, fatalerweise oft bei Dingen, die meinen Akku wieder auffüllen könnten. So werde ich immer müder, ich bin immer müde und erschöpft. Konzentration ist Schwerarbeit, viel anstrengender als Sport.
Das war normal für mich, ich kenne es nicht anders, und in den letzten Jahren habe ich es auf die Depression geschoben und häufig darüber nachgedacht, ob ich schon als Kleinkind depressiv war. Ich kenne mich nur ruhig und in mich gekehrt, mit abschweifenden Gedanken abseits der anderen, die Finger mit Kritzeleien auf den Arbeitsblättern beschäftigt, während ich mich dazu zwang, den Ausführungen der Lehrkräfte zu folgen.
Obwohl ich ein Kind mit starker ADHS habe und vor Jahren die Symptome auch beim Mann erkannte und ihn dazu brachte, sich diagnostizieren zu lassen, kam ich bei mir nie auf die Idee.
Ich bin nicht hyperaktiv, und ich habe permanent die Stimme in meinem Kopf, die mich als faul beschimpft und dass ich mich nicht so anstellen soll. Diese Stimme ist laut und begleitet mich schon mein ganzes Leben. „Trödel nicht so, mach mal hinne, komm in die Puschen, geht’s noch langsamer…“, so habe ich es als Kind von den Eltern gehört, ich hielt mich für träge, und selbst mit diagnostizierter Depression war die Antriebslosigkeit für mich nur eine Ausrede für meine Bequemlichkeit.
Ende letzten Jahres wurde mir plötzlich bewusst, dass all das, was Mann und Kind als ADHS-Symptome haben bis auf die Zappeligkeit, auch bei mir zutrifft.
Hätte es nicht den Arzt des Mannes gegeben, der Zeit für mich hatte für die Diagnostik, obwohl er keine NeupatientInnen mehr aufnehmen kann, wäre es wohl im Sande verlaufen. Ich denke die Stimme, dass ich mich nicht wieder reinsteigern soll, hätte sich durchgesetzt. Aber ich habe mich testen lassen, und es war eindeutig. Und obwohl sich bereits im Hinterkopf die Möglichkeit von ADS festgesetzt hatte, war es ein Schock, es aus dem Munde eines Facharztes zu hören. Ich fühlte mich wie erschlagen, plötzlich setzte sich ein Puzzle zusammen, und so vieles ergab Sinn. Ich war nicht schon als Kind depressiv, ich hatte ADS, und ich wurde depressiv wegen des toxischen Umfelds zu Hause und in der Schule, weil niemand erkannte, was mit mir los war, weil ich beschimpft und gemobbt wurde für etwas, wofür ich nichts konnte, weil ich das seltsame Kind war, das nie richtig Anschluss fand und daher ein willkommenes Opfer wurde. Ich war nicht faul, und ich war nicht blöd, ich konnte mich nur schwer konzentrieren und bei der Sache bleiben.
Seit März bin ich in Behandlung, ich nehme Medikinet, und mein Leben verändert sich. Es ist kein Wundermittel, es macht nicht alles gut, aber es ist ein Krückstock. Was die Antidepressiva nie geschafft haben, die Amphetamine sorgen für Antrieb, mein Kopf ist klarer, alles ist weniger anstrengend, und weil ich mehr schaffe, das Gefühl habe, mehr zu leisten, geht es auch meiner Psyche besser. Ich bin schneller bei dem, was ich tue, zufriedener, und ich finde eher Lösungen für meine Baustellen. Die Depression verschwindet nicht, die Stimme in meinem Kopf ist nicht leiser, aber ich kann besser damit umgehen. Plötzlich finde ich Spaß an Bewegung, weil das Losgehen besser funktioniert, und ich ertappe mich sogar dabei, dass ich rausgehe, weil es mir schlecht geht und die Bewegung mir den Kopf freipustet. Das ist neu, und es fühlt sich gut an.
Kurz nach der Diagnose war ich sehr wütend, weil da plötzlich noch etwas war, was die Eltern und andere Bezugspersonen verbockt haben, weil ich so oft kritisiert wurde, weil es eine Lösung gegeben hätte, um mein Leben normaler gestalten zu können, aber letztendlich reiht es sich nur ein in die Liste von Gleichgültigkeit und psychischer Gewalt. Ja, hätte ich schon als Kind Medikamente bekommen, dann hätte sich mein Leben vielleicht anders entwickelt, aber diese Wut ist nicht zielführend, das Spekulieren lähmt eher, stattdessen sollte ich daran arbeiten, stolz auf das zu sein, was ich trotzdem geschafft habe und jetzt neu beginnen.